09.08.2022
Seit einem Monat hat die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie einen neuen Ärztlichen Direktor. Dr. Bernhard Meyer übernahm vor wenigen Wochen das Amt von Dr. Bernd Balzer, der in den Ruhestand getreten ist. Ein Interview über zukunftsweisende Blickwinkel, die zunehmende Komplexität im Gesundheitsbereich und warum eine schlecht gereinigte, halbvolle Tasse mit kaltem Espresso nicht fehlen darf.
Lieber Herr Dr. Meyer, zunächst einmal herzlich
Willkommen bei den Barmherzigen Brüdern Saffig. Wie geht es Ihnen nach den
ersten Tagen in der Einrichtung?
Ich war beeindruckt vom herzlichen Empfang bei den Barmherzigen
Brüdern. Der Kopf dampfte mir anfänglich vor allem wegen der hochsommerlichen
Hitze - das meinen ersten Eindrücken nach hervorragend organisierte Einarbeitungsprogramm
hilft allerdings trotz der Dichte zahlreicher Termine und Begegnungen einen
kühlen Kopf zu bewahren und die zahlreichen neuen Impressionen aufzunehmen und
bereits mit eigenen Ideen zu verbinden.
Nehmen Sie uns ein Stück mit in Ihrem
Lebenslauf: Welche Stationen sind und waren für Sie wichtig? Was möchten Sie an
Erfahrung mit nach Saffig bringen? Worauf sind Sie Neugierig?
Neben meinen sehr verschiedenen und bereichernden psychiatrischen und psychotherapeutischen Ausbildungsstätten an denen ich tätig war, bspw. dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München oder der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule haben meine Auffassung, wie gute Psychiatrie sein sollte vor allem meine früheren Erfahrungen bei meinem Mentor und Lehrer Herrn Professor Dr. Wolfgang Werner am damaligen Landeskrankenhaus im saarländischen Merzig geprägt. Herr Werner hatte sich früh außerordentlich für die Etablierung gemeindenaher und offener psychiatrischer Versorgungsstrukturen engagiert, als all diese Errungenschaften, die wir heute wert schätzen, andernorts noch in den Kinderschuhen steckten. Leider kann ich mich mittlerweile des Eindrucks nicht erwehren, dass viel seinerzeit Erreichtes wieder Gefahr läuft im Rahmen soziokultureller Wandlungsprozesse zu erodieren. Weiterhin hat mich in besonderem Maße der Kontakt zu dem Schweizer Sozialpsychiater Professor Dr. Luc Ciompi und seinem Lebenswerk geprägt, während einer Zeit an der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik in Bern.
Nun bin ich nicht nur Psychiater, sondern auch Psychoanalytiker, der eine Ausbildung nach den Kriterien der International Psychoanalytical Association hat durchlaufen dürfen. So kommt mir das selbstverliebt anmutende Agieren in Diagnosekategorien der ICD und eine oft fast schon inquisitorisch anmutende Wissbegier in weiten Bereichen des Faches oft seltsam vor - habe ich doch erfahren dürfen, wieviel von Patienten erst in eher schweigsamen Phasen mit der Technik des Erspürens der Zwischentöne und der latenten Botschaften gelernt werden kann.
Viele praktische Erfahrungen, was die strategische Ausrichtung und Weiterentwicklung eines Klinikstandortes angeht, hoffe ich sicherlich einbringen zu können nach fast einem Vierteljahrhundert der Tätigkeit als Ständiger Vertreter eines Chefarztes an einem Saarbrücker Klinikum mit nervenheilkundlichem und altersmedizinischem Schwerpunkt. Ich denke aber auch, dass ich die Tugenden des Zuhörens und der Neugier für noch Unbekanntes einbringen werde, vielleicht wissen ja auch die Institution Saffig und all die Mitarbeitenden noch nicht in Gänze, welche noch unbekannten Schätze und Ressourcen dort geborgen werden könnten. Als zuletzt zu einem Teil auch als Neurologe für Schwerstkranke tätiger Arzt festigte sich bei mir die Einsicht, dass der Urgrund vielen somatischen Leidens oftmals in einem psychischen und sozialen Ursachengefüge zu finden ist und so wäre es mir vice versa auch ein Anliegen psychiatrisch-psychotherapeutisch interessierten Berufsgruppen zu verdeutlichen, dass zugleich unser „Ich“, gleichsam der psychische Apparat, zunächst ein Körperliches ist, wie schon Freud konstantierte.
So bleibe ich neugierig auf das, was wir wohl in den nächsten
Jahren als Dienstgemeinschaft aus Saffig und der BBT-Region Koblenz-Saffig
erschaffen können.
Die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie gehört mit 65 Plätzen zwar zu den kleineren aber dafür überaus spezialisierten Krankenhäusern in Rheinland-Pfalz. Worin sehen Sie die Stärken unserer Einrichtung? Worin die Herausforderungen für die Zukunft?
Die von Ihnen genannte Bettenzahl halte ich für angemessen, um „nah an den Menschen“ und ihren Plätzen in der Heimat psychiatrisch-psychotherapeutisch engagiert zu sein. Wenn Sie sich an meine anfänglichen Einlassungen erinnern, können Sie vielleicht nachvollziehen, dass ich keine Faiblesse für psychiatrische Großeinrichtungen habe. Kleine Schnellboote sind wendiger in sich rasch wandelnden Zeiten mit hohem Anpassungsbedarf, sie können Spezialthemen auch leichter besetzen.
Allerdings haben große Tanker, gerade in Zeiten unruhiger See,
vielleicht gewisse Resilienzvorteile, wenn man bspw. an Probleme wie den
zunehmenden Fachkräftemangel denkt, was eine immer größer werdende
Herausforderung unserer Zeit darstellt. Nun betrachtet man die Klinik Saffig
allerdings im Verbund mit den zahlreichen Satelliteneinrichtungen, man denke
bspw. nur an die Teilhabedienste oder die Werkstätten für Behinderte - oder gar
im Verbund der Klinikstandorte der BBT-Gruppe in Koblenz und Montabaur, so wird
unter der Veränderung des Betrachtungsrahmens aus dem kleinen Schnellboot
sogleich ein Teilelement einer Gorch Fock
mit der Erfordernis, die Segel den Winden unserer Zeit gemäß passend zu setzen.
Lassen Sie mich vielleicht noch last but not least zwei Stärken der Klinik
Saffig benennen, die ich glaube zu identifizieren: eine gelebte christliche
Wertekultur und die außerordentlich wunderbare Lage im Grünen - beides nur
scheinbar Attribute aus unterschiedlichen Welten, denn beides berührt und hält
die Herzen von Menschen.
Die Barmherzigen Brüder Saffig sind als
Komplexeinrichtung sehr breit aufgestellt und unterstützen Menschen mit
psychischen Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Wegen. Welche
Möglichkeiten bietet dies aus Ihrem Blickwinkel?
In der Tat, war ich sehr beeindruckt von der Breite der Angebotspalette der Barmherzigen Brüder Saffig (BBS) für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Die verschiedensten Leistungsbereiche der Sozialgesetzgebung finden sich bei den BBS abgebildet und gelebt. Die Einrichtung bekommt so in einem sich rasch wandelnden Wechselfeld der Nachfrage und der politischen Rahmenbedingungen eine überdurchschnittliche Flexibilität zum Wohle der Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen. Die derart bereits strukturell vorhandene Elastizität der Institution kann hierdurch die gerade bei Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen geminderte Fähigkeit zur Anpassung und zum Finden des individuellen „ökologischen“ Platzes im Leben helfen auszugleichen.
Aus ärztlicher Perspektive bietet zudem sowohl die Repräsentation
der ärztlichen Kompetenz im Direktorium der Gesamteinrichtung, wie auch die
Einbindung der Psychiatrischen Institutsambulanz in die Weiterbetreuung
zahlreicher Klienten der Komplexeinrichtung, die einmalige Chance einerseits
auf einer Makroebene, andererseits individuell-personenzentriert die Wege der
Institution aber auch der Menschen im Verlauf zu begleiten.
Die zunehmende Komplexität der Welt
bringt viele Menschen an ihre Grenzen. Wo sehen Sie die großen Zukunftsthemen
im Hinblick auf die Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen?
Sigmund Freud schrieb in dem Zusammenhang seinerzeit, wie ich
meine sehr treffend, vom „Unbehagen in der Kultur“. Nun gibt es dieses Phänomen
nicht erst seit Freud oder Charlie Chaplins „Modernen Zeiten“. Seit jeher in
der kulturellen Evolution haben die Menschen neue Komplexitätsgrenzen erreicht
und überschritten, zu vielen Zeiten konnten aber auch Menschen mit diesen
Prozessen nicht mitgehen, blieben auf der Strecke - ja, erkrankten gar
psychisch. Früher war eben nicht alles besser oder halt schlechter: es war nur
anders, d.h. beispielsweise Traumatisierungen waren auf anderen Feldern und in
anderen Kontexten zu verorten. Eine Besonderheit scheint mir allerdings die
aktuelle gesellschaftliche Situation besonders zu charakterisieren: die
Akzeleration der Wandlungsprozesse im Sinne eines exponentiellen Szenarios und
die teils verzweifelt anmutenden Versuche, den Lauf der Dinge durch Exzesse von
Regularien, Leitlinien, Grenzwerten, Verordnungen oder gar gehypten
sprachlichen Neuschöpfungen zu verhindern, so als wüßten wir implizit, dass es
ein Immer-weiter-so mit der Schöpfung nicht geben kann und als müsste die daher
aus der Tiefe rührende Signalangst an immer neue, oftmals medial propagierte
„Bilder“ gebunden werden.
In einer derartigen Welt,
die vielleicht ja sogar die Kategorien „verrückt“ und „gesund“ auf den Kopf
stellt, laufen viele Menschen mit psychischen Erkrankungen, vor allem aber diejenigen mit seelischen Behinderungen Gefahr,
zuvorderst victimisiert zu werden: Hier der Anwalt dieser Menschen zu sein ist
eine der vornehmsten Aufgaben psychiatrisch-psychotherapeutisch tätiger
Personen.
Sicherlich gibt es neben dieser großen kollektiven
Zukunftsthematik weitere wichtige Zukunftsfelder im Hinblick für die Behandlung
von Menschen mit psychischen Erkrankungen, wo einzelne Personen und Teams
Themenbereiche ganz konkret voran bringen können - hier seien nur exemplarisch
einige benannt:
Der Ausbau und die Evaluierung der digitalen Vernetzung, um
psychiatrische Versorgung im Liaison- und Konsildienst einem breiten
Kundenkreis als Dienstleitung zur Verfügung zu stellen, die Schaffung von
Diagnose- und Behandlungsangeboten für Menschen mit Störungen aus dem
Autismus-Spektrum oder solchen mit Migrationshintergrund insbesondere unter
Aspekten der Erfordernisse traumatherapeutischer Angebote oder die Frage, wie
wir dem Fachkräftemangel in der Pflege und unter der Ärzteschaft begegnen
können. Auch müssen wir offen bleiben für neue Wege in der Therapie, man denke
nur an innovative Ansätze zur Depressionsbehandlung mit Halluzinogenen oder
Präparaten, deren Verwendung wir bisher vorrangig aus der Anästhesie kennen.
Eine Veränderung der Arbeitswelt (Stichworte
Fachkräftemangel, Work-Life-Balance, Homeoffice-Regelungen) ist auch in
Gesundheitsfachberufen spürbar. Wie wollen Sie dem Themenfeld als Ärztlicher
Direktor begegnen?
Ja, einige Gesichtspunkte, die zu Veränderungen in der Arbeitswelt der Gesundheitsberufe führen wurden ja bereits berührt, bspw. der Fachkräftemangel oder die Bedeutung der IT-gestützten Leistungserbringung aus der Ferne.
Besondere Bedeutung kommt zunehmend der Frage nach der sogenannten
Work-Life-Balance zuteil: Ha, nur leider haben Sie gerade da vielleicht kein
gutes Vorbild als Experten vor sich, wie
man sprichwörtlich sagt „hat der Schuster ja oft die schlechtesten Schuhe“.
Aber ich glaube gerade in der Rolle desjenigen, der diese Balance, jedenfalls
gemäß dem common sense, eher nicht hinlänglich für sich finden kann, habe ich
in diesem Punkt anderen gegenüber eine eher gönnerhaft altruistischen Haltung -
wenn Sie wollen, ein Stück Neurose des Psychiaters halt. Mir bereitet mein Tun
als Arzt und Psychoanalytiker jedenfalls Freude.
Welche Synergien sehen Sie innerhalb der
„BBT-Region Koblenz-Saffig“, also der regionalen Vernetzung der Einrichtungen
der Barmherzigen Brüder Saffig und dem Katholischen Klinikum Koblenz-Montabaur?
Ich sehe eine Fülle denkbarer Synergieeffekte und noch einige Schätze, die gehoben werden können. So habe ich Ihnen bereits meine Ideen zur besseren auch IT-gestützten Vernetzung im Konsiliar- oder Liaisondienst skizziert, wobei ich eine Ausweitung über psychiatrisch-psychotherapeutische Fragestellungen hinaus auch auf den Bereich psychosomatischer Themata für möglich halte. Vernetzung ist natürlich kein unidirektionales Geschäft: eine noch bessere Vernetzung wäre auch hilfreich bei der Etablierung von Spezialthemen, die mir bereits vorschweben, zur Akquise entsprechender Patienten. Des Weiteren wäre es eine Bereicherung auf diesem Weg die somatische Fachkompetenz stärker vor Ort in Saffig vertreten zu wissen, ein guter Schritt ist übrigens hier sicherlich schon mit der Etablierung einer Neurologischen Praxis getan worden.
Die folgenden Überlegungen gehen nun vielleicht über die Belange
der Region Koblenz-Saffig hinaus, aber in meiner Zeit als psychotherapeutisch
und psychosomatisch interessierter
Neurologe habe ich immer wieder eine Versorgungslücke im Bermuda-Dreieck zwischen der Neurologie, den
Psychofächern, speziell der Psychotherapie und Psychosomatik, und der
Rehabilitationsmedizin feststellen können -
hier könnte ich mir eine besondere Intensivierung der Kooperation
vorstellen, zumal neurologische
Fachabteilungen an mehreren Standorten in der BBT-Gruppe vertreten sind.
Kurze Fragen, kurze Antworten:
Inklusion ist für Sie?
Mehr als ein Schlagwort.
Kollegen sind für Sie?
Wie das Wasser für einen Fisch, wie die Luft zum Atmen.
Familie ist für Sie?
Die drei H: Heimat, Halt und praktische Hilfe.
Glaube ist für Sie?
Ein wundersames Mysterium, welches das Gefängnis unserer Sprache
nur unzulänglich fassen kann.
Freizeit ist für Sie?
Als Neurologe war ich in meiner Freizeit Psychoanalytiker und
Psychotherapeut. Jetzt muss ich neu über mich und meine Beziehung zur Freizeit
nachdenken.
Was darf auf Ihrem Schreibtisch auf
keinen Fall fehlen?
Eine gebastelte Libelle, die ich noch nicht mitgebracht habe, und
eine schlecht gereinigte halbvolle Tasse mit kaltem Espresso
Sie wohnen seit kurzem mit ihrer Familie
in Kobern-Gondorf. Gibt es schon einen ersten Lieblingsplatz in unserer Region?
Meine Großväter hatten beide
angeblich eine Faiblesse für die Ahnenforschung - so fand der eine raus,
dass er von einem gewissen Michel Ney, der in Napoleonische Dienste getreten
war, abstamme - wohl kein Kunststück, da zahlreiche Saarlouiser Bürger,
selbiges von sich behaupten. Der Großvater mütterlicherseits hingegen habe
behauptet, seine Verwandtschaft stamme von der Burg Eltz. Letzteres allerdings
hat mich neugierig gemacht und nun habe ich mich bei kleinen abendlichen
Ausflügen auf die Suche nach dieser Burg gemacht, deren Zugang ich nun zweimal
nicht fand und auf dem Weg zu welcher wir nachts im dritten Anlauf dann von der
Dämmerung im „Märchenwald“ überrascht und zur Umkehr gezwungen wurden. Eines
Tages werde ich sie finden, denn man
sagt mir ja doch eine gewisse Hartnäckigkeit nach, und es ist dort oben eine
eindrucksvolle Landschaft und frische Luft.
Wenn Sie an Urlaub denken, dann denken
Sie an welches Land?
Italien mit den Regionen Piemont und Ligurien. Mein Lieblingsweg
ist die alte Via Julia Augusta über die Höhen bei Laigueglia.